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„Man wird bescheiden“ - Ursula Zeisel im Gespräch mit Jutta Korosec, Ärztin für Allgemeinmedizin im Dialog über Stigmatisierung von Suchtklient_innen im Gesundheitsbereich

„Von welchen Stigmatisierungen berichten Klient_innen? Was erleben sie in Gesundheitseinrichtungen, bei Behörden? Wo fühlen sie sich anders behandelt als andere Patient_innen?“

Klient_innen berichten davon, in vielen Bereichen „schief angeschaut“ und dadurch unfreundlicher angesprochen zu werden, sobald sie als suchtkrank erkannt werden. Suchtmittelabhängige werden zwar nicht von Behandlungen weggeschickt oder ausgeschlossen, diese negativen Erlebnisse führen aber dazu, dass unsere Klient_innen weniger zu Behandlungen und Vorsorgeuntersuchungen gehen. Krankheiten werden so oft später entdeckt oder behandelt. 

Stigmatisierung ist in jedem Bereich schlecht und immer unangenehm für die Betroffenen. Im Gesundheitssystem ist es besonders bedenklich, weil es hier um ein gesünderes Leben, Heilung und vielleicht sogar um Lebensrettung gehen kann.

Als Beispiel kann ich von einer sehr stabilen schwangeren Klientin erzählen, die sich sehr auf ihr Kind gefreut hat und wo alles während der Schwangerschaft gut gelaufen ist. Sie hat berichtet, dass sie ab dem Zeitpunkt, als ihre Opioidagonistentherapie („Substitutionsbehandlung“) im Mutter-Kind-Pass eingetragen war, ganz anders wahrgenommen wurde. Sie hat ab dem Zeitpunkt bei allen Untersuchungen abfällige Blicke gespürt, man war unfreundlich zu ihr, hat ihr nicht mehr so ausführlich auf ihre Fragen geantwortet. Sie hätte sich „nur“ gewünscht, wie jede andere Schwangere behandelt zu werden, und hat gesagt: „Den Makel werde ich nun nie wieder los.“ Das hat mich sehr berührt.

 

„Welche Aussagen von anderen Berufsgruppen/Behörden/Ärzt_innen über Suchtklient_innen haben dich gewundert? Aber auch: Welche positiven Erfahrungen hast du gemacht?“

Stigmatisierung und Vorurteile gibt es auch bei der Kolleg_innenschaft. Die üblichen Reaktionen, wenn ich erzähle, dass ich Ärztin in einer Suchthilfeeinrichtung bin, sind sehr ambivalent. Sie schwanken zwischen Bewunderung für die Geduld und Empathie die man in diesem Bereich braucht, gekennzeichnet durch Aussagen wie: „Ich könnte das nicht“ und Bemitleidung, ausgedrückt durch den spürbaren Gedanken: „Hast du keinen besseren Tätigkeitsbereich gefunden?“ und Sätzen wie „Gut, dass es jemand gibt, der sich um diese Leute kümmert“, allerdings nicht mit der Bereitschaft, das auch zu tun. Die Patient_innengruppe der Suchtkranken wird nicht als „normale“ Patient_innengruppe erlebt. 

 

„Was wünscht du dir in Richtung Entstigmatisierung von Suchtklient_innen von der Kolleg_innenschaft außerhalb der Suchthilfe?“

Ich wünsche mir maximale Toleranz gegenüber unseren Klient_innen. Ich denke auch, dass vielen Menschen, die im Gesundheitsbereich arbeiten, Wissen zum Thema Sucht fehlt. Was auch ich gelernt habe, ist: Wenn man sich Biografien von Suchtklient_innen ansieht, erkennt man, dass bei vielen eine Heilung von der Suchterkrankung nicht möglich sein wird und dass sie, bedingt durch ihre Lebenserfahrungen, nur ein eingeschränktes Maß an Möglichkeiten haben, ihr Leben zu verändern. Die Praxis schult und macht auch bescheiden bezüglich besonders hochgesteckter Ziele. In der Suchthilfe ist es wie in anderen Bereichen auch: Je mehr man mit einer marginalisierten Gruppe zu tun hat, desto mehr weiß man darüber und arbeitet auch gern mit ihr.