Über Sucht und Suche – Spiritualität und Abhängigkeitserkrankungen
Die Forschung zeigt deutlich: Menschen, die sich als religiös bezeichnen, berichten im Durchschnitt von weniger Depression, Angst und Stress. Sie haben ein niedrigeres Suizidrisiko und konsumieren tendenziell weniger Alkohol, Tabak und andere psychoaktive Substanzen. Doch Religion und Spiritualität bergen auch Risiken. Wo Gemeinschaft entsteht, kann Ausschluss entstehen. Einsamkeit zählt zu den gravierendsten Gesundheitsrisiken unserer Zeit – ihr Einfluss auf Psyche, Immunsystem und Herz-Kreislauf-System ist in etwa vergleichbar mit starkem Rauchen.
Unsere Gegenwart ist voller Widersprüche: materieller Wohlstand und technischer Fortschritt auf der einen Seite, Krisen, Brüche und ein Gefühl der Beschleunigung auf der anderen. Je schneller sich die Welt dreht, desto drängender werden die Fragen, die Kant einst als Kern aller Philosophie sah: Was ist der Mensch? Was soll ich tun? Was kann ich wissen? Und was darf ich hoffen? Der Wiener Psychiater Viktor Frankl beschrieb das Bedürfnis nach Sinn als eines der grundlegendsten Motive des Menschen. Wir suchen nach etwas Verbindendem, nach Orientierung im Unübersichtlichen. Friedrich Nietzsche, auf den auch Frankl sich berief, vermutete bereits vor 150 Jahren den „Tod Gottes“ – und behauptete zugleich: „Wer ein Wozu hat, erträgt jedes Wie.“ Was dieser, so oft Missverstandene, wohl meinte: Wenn traditionelle religiöse Ordnungen brüchig werden, entsteht ein Raum der Unsicherheit, in dem das Suchen und Finden von orientierenden Werten nötig wird.
Religion und Spiritualität antworten seit jeher auf diese Suche – auf unterschiedliche Weise. Während Religionen über Glaubensgemeinschaften und rituelle Praktiken Zugehörigkeit und einen haltgebenden Rahmen bieten, beschreibt Spiritualität eher die individuelle, höchsteinzelne Bewegung hin zu Sinn, Verbundenheit und Transzendenz. Spiritualität bedient sich dabei oft religiöser und kultureller Elemente, wie bei der westlichen Auslegung des Buddhismus und des Hinduismus und deren zunehmender Verbreitung in unseren Breitengraden zu beobachten ist.
Die Forschung zeigt deutlich: Menschen, die sich als religiös bezeichnen, berichten im Durchschnitt von weniger Depression, Angst und Stress. Sie haben ein niedrigeres Suizidrisiko und konsumieren tendenziell weniger Alkohol, Tabak und andere psychoaktive Substanzen. Wenn Substanzen in religiösen Kontexten vorkommen – etwa Cannabis im Rastafarianismus, Messwein im Christentum oder Peyote in der Native American Church – dienen sie nicht der Betäubung oder Leistungssteigerung, sondern der gemeinschaftlichen Teilhabe am göttlichen Ganzen. Kontrollverlust über den Konsum, eines der Hauptkriterien der Suchterkrankung, ist dort unvorstellbar.
Doch Religion und Spiritualität bergen auch Risiken. Wo Gemeinschaft entsteht, kann Ausschluss entstehen. Einsamkeit zählt zu den gravierendsten Gesundheitsrisiken unserer Zeit – ihr Einfluss auf Psyche, Immunsystem und Herz-Kreislauf-System ist in etwa vergleichbar mit starkem Rauchen. Menschen, die aus religiösen Gemeinschaften ausgeschlossen werden, weisen deutlich erhöhte Raten psychischer Belastung auf; der Griff zu Suchtmitteln als Bewältigungsversuch (sei es zur Betäubung oder aus Hedonismus) liegt nahe.
Ähnlich ambivalent zeigt sich Spiritualität. Für viele bedeutet sie Achtsamkeit, Werteorientierung und einen bewussteren Umgang mit dem eigenen Körper: „My body is my temple“. Unter dieser Maxime leben Menschen nicht nur einen Lifestyle mit Fruchtsmoothie-Diät und Yoga-Verrenkungen, sondern verzichten auch oft auf psychoaktive Substanzen. Für andere kann sie zur Umgehungsstrategie werden – ein „Spiritual Bypassing“, das schwierige Gefühle überstrahlt, anstatt bei ihrer Bewältigung zu unterstützen. Manche suchen die Antworten auf ihre spirituellen Fragen auch im Konsum psychedelisch wirkender Substanzen, wie LSD, Psylocybin und dem immer berühmter werdenden Ayahuasca. Hier sei eingeräumt, dass uns diese Substanzen – mit der Ausnahme von Cannabis - aufgrund ihres niedrigen Suchtpotenzials in der Prävention eher im Hinblick auf ihr vorhandenes Psychoserisiko beschäftigen als im Hinblick auf Suchterkrankungen.
Für die Präventionsarbeit bedeutet das: Religion und Spiritualität können kraftvolle Ressourcen sein. In ihren extremen Formen jedoch können sie Menschen für psychosoziale Unterstützung unerreichbar machen – und existenziell isolieren. Letztlich scheint weniger entscheidend zu sein, ob ein Mensch religiös oder spirituell ist, sondern wie. Religion und Spiritualität wirken schützend, wenn sie Selbstwahrnehmung, Verbundenheit, Wertesicherheit und Selbstwirksamkeit fördern. Sie werden riskant, wenn sie Scham erzeugen, Autonomie untergraben oder den Kontakt zur Realität – und zu professioneller Hilfe – erschweren.