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„Aus der Praxis – Interview mit Psychiaterin Dr. Bernadette Schwengerer zu Zusammenhängen zwischen Essstörungen und Sucht“

Ursula Zeisel im Gespräch mit Bernadette Schwengerer, Fachärztin für Psychiatrie am Standort Dialog-Modecenterstraße zum Thema Essstörungen und Suchterkrankungen

Ursula Zeisel (UZ): Gibt es Menschen, die eine Suchterkrankung und eine Essstörung haben? Wie oft kommt das vor, von wie vielen Personen sprechen wir?

Bernadette Schwengerer (BSch): Die Prävalenzrate, also die Häufigkeit einer Krankheit oder eines Symptoms in der Bevölkerung zu einem bestimmten Zeitpunkt, liegt laut Studien bei Essstörungen und Suchterkrankungen zwischen 18% und 34%. Man kann also davon ausgehen, dass ein Viertel bis ein Drittel der Personen, die eine Suchterkrankung haben, auch eine Essstörung haben. Vor allem Frauen mit einer Alkoholabhängigkeit sind besonders häufig davon betroffen, wobei die Betroffenen sehr selten an einer Anorexie leiden, Bulimie oder Binge-Eating kommen hingegen häufiger vor. Klient_innen mit einer Suchterkrankung sollten wir in jedem Fall auch gezielt nach Essstörungen in der Anamnese fragen, und genauso umgekehrt. Für die Diagnostik gibt es Checklisten und strukturierte Interviews, die Professionist_innen verwenden können.

UZ: Und warum ist das so – was hat Substanzkonsum mit einer Essstörung zu tun, welche Ursachen gibt es dafür?

BSch: Einerseits gib es biochemische Gemeinsamkeiten: Neben Serotonin, das bei Hunger und Sättigung eine zentrale Rolle spielt, wird vermutet, dass endogenen Opiaten und Dopamin sowohl bei Essstörungsphysiologie als auch dem Suchtverhalten eine wichtige Bedeutung zukommt. Andrerseits liegt es an bestimmten Persönlichkeitsstrukturierungen: Patient_innen beider Gruppen berichten davon, das Verhalten oder die Substanz dafür zu nutzen, besser mit Stress und negativen Gefühlen umgehen zu können, beide halten ihr Verhalten geheim oder verleugnen es und halten es aufrecht trotz negativer Konsequenzen. Es treten bei beiden Erkrankungen Kontrollverlust und Zwangsgefühle auf. Viele Klient_innen haben Missbrauch in der Kindheit erlebt. Die Essstörung tritt meist vor einer Suchterkrankung auf. Sowohl Essanfälle wie Substanzmissbrauch können als Ausdruck einer Störung der Impulskontrolle aufgefasst werden. Der Missbrauch von Alkohol oder anderen Substanzen kann auch ein Versuch sein, (Begleit-)Symptome der Essstörung wie Schuld, Scham oder Angst zu behandeln.

UZ: Wie wird entschieden, wie eine Person, die beide Diagnosen hat, behandelt werden sollte?

BSch: Falls beide Erkrankungen vorliegen, sollten auch beide behandelt werden. Für die gemeinsame Behandlung spricht, dass es eine größere Gefährdung der Personen gibt und dass jede Substanzeinnahme Auswirkung auf die Hunger- und Sättigungsregulierung hat. Sowohl Essstörungen als auch Suchtstörungen haben ein hohes Rückfallrisiko und die Gefahr einer Chronifizierung. Häufig ist ein Wechsel zwischen Phasen intensiver Essstörungssymptomatik und Phasen mit intensivem Suchtmittelkonsum erkennbar. Bei Versuchen, den Suchtmittelkonsum zu reduzieren, tritt die Essstörungssymptomatik als Strategie zur Spannungsreduktion auf. Abstinenzbemühungen scheitern daher oft, da die Betroffenen sich in einem körperlich labilen Zustand befinden.
Laut den medizinischen Leitlinien wird bei einer gleichzeitig längerdauernden schweren Suchtproblematik und einer Essstörung eine stationäre Behandlung empfohlen.

Ein Literaturtipp zum Thema von Bernadette Schwengerer: Maria Sanchez, „Der Innere Weg: Vom Essen und Leben“, ‎ Envela Verlag 2015