Direkt zum Inhalt

„Ich will aber gar nicht anders sein!“ - Was sagen Menschen mit Abhängigkeit zum Thema Stigmatisierung?

In meinen Gesprächen zum Thema Stigmatisierung mit Klient_innen an einem der Dialog- Standorte habe ich nach Erfahrungen gefragt und auch danach, welche Wünsche betroffene Personen haben.

Man kann die Erfahrungen, Emotionen und Gedanken zum Thema Stigmatisierung in drei Bereiche unterteilen:

Zunächst sind es individuelle Diskriminierungen, die Klient_innen erleben und die sie sehr beschämen, kränken und ärgern. Klient_innen berichten davon, dass ihnen regelmäßig gesagt werde, sie seien „selbst schuld an ihrem Konsum“ und sollten „doch einfach aufhören“, Drogen oder Alkohol zu konsumieren. Sie bekommen ungefragt von anderen erzählt, dass ein Leben ohne Substanzkonsum „ganz leicht“ sei „wenn man nur wirklich will“. Eine Suchterkrankung wird als persönliches Fehlverhaltens gesehen und nicht als Krankheit. Klient_innen fällt auch die unterschiedliche Beurteilung von Erkrankungen auf: Wenn man körperlich krank ist, bekommt man vom seinem Umfeld Zuwendung und Hilfe, bei einer psychischen Erkrankung wird vielmehr in Frage gestellt, ob man „wirklich krank“ ist und Hilfe braucht. Ist man, bedingt durch die Suchterkrankung, eingeschränkt – zum Beispiel Vollzeit zu arbeiten – wird man rasch als „faul“ oder „Lügner_in“ bezeichnet. Auch von Ausgrenzung wurde mir erzählt: Menschen aus dem sozialen Umfeld distanzieren sich und die Suchterkrankung wird als „schlechte Charaktereigenschaft“ einer Person gesehen.

Es gibt aber auch Selbst-Stigmatisierung. Abhängige Personen sehen sich selbst als Versager_innen, weil sie die Vorurteile, die ihnen begegnen, innerlich akzeptieren und teilen. „Ich kann gar nichts“, „Ich bin am ganzen Unglück meines Umfelds schuld“ und „Ich mache alles falsch“ sind Aussagen, die Klient_innen über sich treffen und auch empfinden. Eine Relativierung und das Erkennen von Dingen im Leben, die sehr wohl gut sind und glücken, ist schwierig. 

Durch diese Erfahrungen, aber auch durch diese eigenen Glaubenssätze kommt es zum Verlust der Selbstwirksamkeit. Die Zuversicht in eigene Fähigkeit, aus der Abhängigkeit herauszukommen, wird vermindert. Scham fördert Verdrängen, Leugnen und Lügen gegenüber dem Umfeld. Das erschwert auch die Bereitschaft, Unterstützung zu suchen und anzunehmen. Durch das aus Selbststigmatisierung resultierende geringere Selbstwertgefühl steigen auch der Beikonsum sowie das Vorfall- und Rückfallrisiko an.

Auch strukturelle Stigmatisierung ist Thema für Suchtklient_innen: Menschen mit einer Suchterkrankung erleiden Diskriminierung im Gesundheitssystem oder im Beruf. Sie werden als  niederrangig angesehen und benachteiligt, weil sie nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechen. Wenn zum Beispiel einer Arbeitgeber_in eine Suchterkrankung (auch eine zurückliegende) bekannt ist, wird die betreffende Person häufig am Arbeitsplatz mehr beobachtet bzw. kontrolliert und ihr wird weniger zugetraut.

Auf meine Frage an Klient_innen, was sie sich zur Entstigmatisierung wünschen würden, kamen folgende Vorschläge und Bitten: 

  • Breite Aufklärung ist wichtig, damit alle akzeptieren: Eine Suchterkrankung ist eine „normale“ chronische Krankheit und kann jede_n treffen. Es wäre sehr gut, mehr darüber im persönlichen, aber auch im gesellschaftlichen Kontext zu reden. Dann kann man auch Stigmatisierungen und Vorurteile besser ansprechen und abbauen.
  • Schuldzuweisungen sollten absolut vermieden werden. Niemand mit einer Suchterkrankung fühlt sich gut und jede_r mit einer Sucherkrankung ist bemüht, gegen die Sucht „anzukämpfen“.
  • Menschen mit einer Abhängigkeit brauchen Vertrauen in die eigenen Lebenskompetenzen und müssen Selbstwertgefühl aufbauen. Sie dabei zu fördern und zu unterstützen, wäre gut.

Zusammenfassend kann man sagen, das der Hauptwunsch darin besteht, nach dem Verhalten und Wesen beurteilt zu werden und nicht auf Grund der Suchterkrankung.